Nichts war ihr unangenehmer als zugeben zu müssen, dass sie nicht weiter wusste. Was hatte sie nicht schon alles versucht, um ihren Geist zu lösen, um sich wieder in der Weite ihrer Phantasie verlieren zu können. Was war es nur, das sich in ihren Gedanken festgesetzt hatte und sie so gefangen hielt?
Normalerweise fiel es ihr ziemlich leicht, ihr Ich in all seinen Facetten auf der Leinwand entstehen zu lassen. Ein Bild ohne echte Persönlichkeit konnte und wollte sie nicht malen, davon gab es ihrer Meinung nach schon zu viele.
Sie senkte die Augen und verlor sich im Farbengewirr der Palette in ihrer Linken. Mit einem leisen „Schauderhaft“ legte sie Pinsel und Palette auf das kleine Tischchen vor der Staffelei und streckte ihren Rücken durch. Eine ganze Weile stand sie einfach nur da und blickte auf die Leinwand. Nein, das Bild hatte ihr nichts mehr zu geben. Sie hatte nichts mehr zu geben.
Berit zog ihren Malerkittel aus und erinnerte sich daran, wie sie ihn zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte.
Andreas hatte ihn ihr einst freudestrahlend überreicht, als er sie in ihr neues Reich geführt hatte. Er hatte sich wirklich große Mühe gegeben, den muffigen Kellerraum in ein freundliches Zimmer zu verwandeln. Sie sollte die Möglichkeit für Rückzug haben, sie sollte sich nur auf sich selbst konzentrieren können. Auf ein Ich, das ihr nach der Geburt ihrer zweiten Tochter verloren geglaubt schien.
„Aber Schatz, das ist doch ein Apothekermantel!“
„Na und, es spielt doch keine Rolle, welches Kleidungsstück dich vor deinen Farbspritzern schützt, nicht wahr? Und außerdem habe ich einen neuen vom Chef bekommen.“
Dann hatte Andreas seine Frau behutsam weiter in den neuen Raum geschoben, ihr eine Kusshand zugeworfen und die Tür hinter sich geschlossen, um sie alleine zu lassen.
Genau wie heute hatte sie einfach nur dagestanden und sich mit dem Mantel in den Händen ihren Gedanken überlassen.
So viele Farben, so viele Erinnerungen. Eigentlich sollte ich ihn auf einen Rahmen spannen, überlegte sie.
Ihre Hände streichelten den fleckigen Stoff behutsam wie einen alten Freund und legten ihn dann langsam auf dem abgewetzten Ohrensessel ab. Sie fragte sich, wie oft sie wohl schon Tee trinkend darin gesessen hatte, um sich an einem gerade entstehenden Bild zu erfreuen.
Berit warf einen letzten Blick auf ihr Bild, das sich so vehement weigerte, ihr Bild werden zu wollen, und ging aus dem Atelier. Schon längst war das kleine, dunkle Kellerzimmer einem lichtdurchfluteten Studio gewichen. Der Architekt hatte sich vor acht Jahren sehr darum bemüht, dem neuen Familienheim nicht nur zu hübschen Wohnbereichen zu verhelfen, sondern auch ihrer Kunst angemessenen Raum zu verleihen.
Als sie das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür vernommen hatte, war es, als machte sich Erleichterung in ihr breit. Die Ausstellung war für Dezember vereinbart, aber das würde wohl nichts werden. Innerhalb von drei Monaten würde sie niemals zu der Aussagekraft zurück finden können, die vor langer Zeit auf sie aufmerksam werden ließ. Es war Zeit, Luise anzurufen und jene davon abzuhalten, die Werbeplakate in den Druck zu schicken. Die große Berit war offenbar doch nicht so groß, wie man sie immer im Schwarzwälder Boten darstellte. Die angebliche Bilderseele Rottweils war ausgebrannt und leer.
An trostlosen Tagen wie diesen pflegte Berit üblicherweise, ihren Rucksack zu packen und sich am Neckar freizuwandern. Aber heute erschien ihr sogar das zwecklos. Die Farben, die Gerüche und Geräusche ihrer Kindheit, ja ihres ganzen Lebens, erschienen ihr plötzlich so fremd wie das Bild im nun geschlossenen Atelier. Das kam ihr ein bisschen merkwürdig vor, denn die Tür war die ganzen Jahre überwiegend offen gewesen. Sie liebte die Offenheit beim Malen, um sich von der Welt mitreißen zu lassen. Eine geschlossene Tür hätte ihr den Eindruck verliehen, eingesperrt zu sein.
Und daher wunderte sie sich über das unerwartete Gefühl der Befreiung, das sie so im Flur stehend plötzlich empfand.
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23 Sonntag Okt 2016
Posted Grün
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