Berit legte ihre Koffer beinahe vorsichtig in den Kofferraum, als enthielten jene zerbrechlichen Inhalt. Sie hatte sich große Mühe damit gegeben, die richtigen Sachen auszuwählen und jene mit größtmöglicher Sorgfalt auf- und ineinander gestapelt.
Nur zwei Koffer und eine große Reisetasche für eine Reise ins Unbekannte! Ob mir das reicht, dachte sie.
Berit konnte genau fühlen, dass das ihr so vertraute Zaudern erneut dabei war, sie in seine unbarmherzigen Arme zu nehmen. Dieses Mal war sie aber fest dazu entschlossen, sich nicht davon überwältigen zu lassen und dieser Enge zu entfliehen.
Sie straffte ihre Schultern und betrachtete ihr wunderschönes Haus.
Es steckten so viele Erinnerungen darin!
In Berits Gedanken nahm plötzlich eine Unmenge an gutmütigen, schlimmen, traurigen, fröhlichen, bunten und auch schwarzen Erlebnissen Gestalt an.
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Erinnerungen auch physisch daran hindern, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Und damit setzte sie sich entschlossen in den Wagen, wählte die ihr so vertraute Nummer und wartete mit klopfendem Herzen auf die Stimme ihrer Freundin.
„Richmann?“
„Berit hier. Jutta, hast du kurz Zeit für mich?“
„Kommt drauf an, was du von mir brauchst“, lachte ihre Freundin in ihr Ohr.
„Ich komme kurz mal im Café vorbei, ist dir das recht?“
Nachdem Berit die erhoffte Antwort erhalten hatte, legte sie das Telefon auf den Beifahrersitz und drehte den Schlüssel um. Dem ruhigen Brummen des Motors gelang es schon bald, Berits Herzschlag wieder etwas zu normalisieren.
Je weiter sie sich von ihrem Zuhause entfernte, umso leichter wurde es in ihrer Brust.
Zurück schaute sie nicht mehr.
Die Terrasse des Kunstcafés war erstaunlich voll an diesem Vormittag. Der August verabschiedete sich dieses Jahr mit außergewöhnlich heißen Sommertagen und lockte nicht nur Touristen dazu ein, sich in die Sonne zu setzen und sich mit kühlen Getränken und Eisbechern zu erfrischen. Zum üblichen Damenkränzchen, das Jutta Richmann liebevoll als Inventar zu bezeichnen pflegte, hatten sich mehrere unbekannte Gesichter gesellt.
Zielstrebig bahnte sich Berit ihren Weg durch die mit fröhlich plappernden Menschen besetzten Tische hinein ins Café. Wie immer fand sie ihre Freundin hinter dem Tresen vor, die ihren Blick umgehend auffing.
Nach einer kurzen Unterhaltung mit einer ihrer Kellnerinnen deutete Jutta mit einem Kopfnicken zu einem kleinen Tischchen vor dem Tresen.
Berit nahm Platz, um auf sie zu warten. Die kurze Wartezeit nutzte sie dazu, um die sie umgebende, aktuelle Ausstellung an den Wänden zu bewundern. Bereits bei der Vernissage Anfang August hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Farbpracht dieser jungen Nachwuchskünstlerin eine ganz besondere Stimmung ins Café zaubern würde. Jutta war sich damals nicht ganz sicher gewesen, ob man sich angesichts des kräftigen Bunts nicht auf Dauer eher genervt, denn inspiriert fühlen würde. Dabei vermochte jedes einzelne Bild Berits Meinung nach seine ganz eigene Geschichte zu erzählen.
Geschichten, die sie nicht mehr erzählen konnte, wie ihr gerade in diesem Moment klar wurde.
So in Gedanken versunken ließ sie sich von der Leuchtkraft den Farben mitnehmen und verlor sich in ihnen, bis ihre Freundin wie immer mit zwei Tassen Tee vor ihr stand und sie freundlich anlächelte.
„Na, meine Liebe, was verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?“
„Ich hoffe, ich störe dich nicht. Ist ziemlich voll heute. Vielleicht hätte ich besser nicht kommen sollen“, antwortete Berit.
Jutta setzte sich neben sie, lachte herzlich und umarmte sie.
„So ein Unsinn, du weißt doch, die Karin ist die beste Bedienung, die man sich wünschen kann. Die schafft das ganze Lokal alleine und bringt sogar verärgerte Gäste dazu, über eine lange Wartezeit zu schmunzeln. Denk dir also nichts.“
Als Berit hierauf nichts erwiderte, sondern schweigend an ihrem Tee schnupperte, verschwand Juttas fröhliches Lächeln aus ihrem Gesicht.
„Liebes, was ist denn mit dir los?“, fragte sie.
Berit sah ihre Freundin eine Weile an, um nach den richtigen Worten zu suchen. Warum nur fiel es ihr so schwer, Dinge beim Namen zu nennen? Mit einem Pinsel in der Hand konnte sie sich weit besser ausdrücken – jedenfalls war das bis heute Morgen immer so gewesen.
„Jutta, ich verschwinde“, sagte sie endlich.
„Wie, du verschwindest? Spinnst du?“
Am liebsten wäre Berit sofort aufgesprungen und weggelaufen, aber nun hatte sie es endlich ausgesprochen.
Wem, wenn nicht ihrer ältesten Freundin, konnte sie sich anvertrauen?
„Ich verschwinde für eine Weile von hier. Ich muss weg. Ich kann einfach nicht mehr.“
„Was ist denn passiert? Wo willst du denn hin?“, fragte Jutta überrascht.
„Ich weiß noch gar nicht, wo ich überhaupt hin will, aber auf alle Fälle halte ich es hier nicht mehr aus. Ich bin so furchtbar leer.“
„Was sagt denn Andreas dazu? Und die Mädchen?“, wollte Jutta wissen.
„Sie wissen noch nichts. Ich habe ihnen Briefe geschrieben, in denen ich ihnen alles erkläre.“
„Du weißt schon, dass das eine starke Nummer ist, die du da abziehst? Was auch immer dich dazu bringt, sowas überhaupt machen zu wollen, das haben deine Kinder nicht verdient. Die kommen von der Schule nach Hause und ihre Mama ist einfach futsch?“
„Bitte hass mich nicht“, bat Berit leise. „Ich brauche Zeit für mich allein. Andreas und die Kinder kommen zurecht. Die sind ja schon groß. Und außerdem, was bin ich denn für eine Mutter, wenn ich so bin wie ich bin?“
„Wie bist du denn?“, fragte Jutta.
Berit seufzte schwer und ließ sich etwas Zeit für ihre Antwort.
„Ich bin nicht mehr da. Ich habe irgendwie damit aufgehört, ich zu sein.“
Als Jutta in das verzweifelte Gesicht ihrer Freundin blickte, erkannte sie, dass diese Worte eine unfassbare Wahrheit für Berit geworden waren. Da waren noch so viele Fragen, die sie ihr zu gerne stellen wollte, aber sie wusste genau, dass jene keine Worte mehr hatte für das, was ihr gerade so zusetzte. Also nahm sie Berit einfach in den Arm und hielt sie wortlos so lange fest, bis das eingesetzte, leise Weinen wieder aufhörte.
„Ich kümmer´ mich um deine Mädels. Ich bin für sie da, versprochen. Halt mich bitte auf dem Laufenden und sag mir, wann du wieder zurückkommst“, sagte sie.
Berit konnte nicht antworten.
Sie sah sie nur mit großen, traurigen Augen an und nickte.
Dann stand sie auf, beugte sich noch einmal zu einem Küsschen zu ihrer Freundin hinunter und wandte sich zum Gehen.
„Pass auf dich auf und melde dich, ja?“, bat Jutta eindringlich.
„Werde ich“, versprach Berit und verließ das Café.