7

1976

„Langsam, skat! Lauf nicht zu schnell, sonst fällst du!“, rief Lillian ihrer kleinen Enkelin hinterher, die es wie immer nicht aushalten konnte, langsam durch die einladende Dünenlandschaft zu spazieren.
Die weißen Wege schlängelten sich verspielt durch das sanfte Auf- und Ab der üppig bewachsenen Hügel bei Tornby Strand.

Berit liebte es, auf den schmalen Pfaden zwischen silbern schimmerndem Strandhafer und den niedrigen Heidekraut- und Kriechweideflächen hindurchzulaufen. Vom Parkplatz beim Hotel Munch waren es zwar nur wenige Minuten zu Fuß zur Klitplantage, aber in diesem Abschnitt des weitläufigen Dünengebiets bei Hirtshals hätte sich Berit gerne auch ewig aufhalten können.
Es machte ihr so großen Spaß, die hohen Dünen hinaufzulaufen und dann im verzweigten Gewirr der Trampelpfade eben den zu finden, der sie wieder hinunter zu ihrer Großmutter führen würde.
Wenn sie es geschafft hatte, einen der doch ziemlich steilen Hügel hinaufzuklettern, wurde sie mit einer herrlichen Aussicht auf die tiefblaue Nordsee und ein großes Dünengebiet mit vereinzelten Ferienhäusern belohnt. Bei klarem Wetter konnte man nicht nur den Leuchtturm von Hirtshals sehen, sondern auch den, der bei Rubjerg Knude hinter einer gewaltigen Sanddüne hervorlugte. Oben auf einer Düne fühlte sich Berit frei und schwerelos.
Beim Hinunterlaufen hatte sie das Gefühl, immer mehr in das prächtige Farbenspiel der hügeligen Dünenlandschaft einzutauchen. Inmitten satter Grüntöne leuchteten sowohl silberne Sanddornpflanzen mit unzähligen, orangen Beeren als auch die Magenta farbigen Blüten und feuerroten Hagebutten der Kartoffelrosen. In diesem Pflanzenmeer stand ihre geliebte Großmutter, die wie immer ihr braunes Wolltuch um die Schultern gelegt hatte.
Ihre wundervolle mormor hatte alle Geduld der Welt und schimpfte niemals, auch wenn jene sie kurzzeitig aus den Augen verloren hatte. Berit liebte es, mit ihrer Großmutter auf Bjæsk-Tour zu gehen, auch wenn sie sich nicht wirklich darum bemühte, ihr beim Sammeln der benötigten Beeren und Kräuter zu helfen.
Wie jedes Jahr sammelte Lillian unzählige Hagebutten der Kartoffelrosen, die sie zur Herstellung von Bjæskschnaps brauchte. Der braune Weidenkorb an ihrem Arm war schon halb gefüllt mit dicken, leuchtend roten Früchten, als Berit ihr mit glühenden Wangen entgegenlief.
„Hast du denn noch nicht genug davon, mormor?“
„Ich denke schon. Hilfst du mir mit dem Sanddorn?“
„Brauchst du so viele davon? Den haben wir doch schon zweimal gesammelt!“
„Das war für Marmelade. Jetzt ist es Zeit für Schnaps, skat“, sagte Lillian lächelnd und streichelte liebevoll über das erhitzte Gesichtchen ihrer Enkelin.
„Ich mag beides nicht. Und außerdem sticht der mich immer.“
„Magst du lieber noch ein bisschen herumlaufen?“
Statt einer Antwort schlang die Kleine ihre Arme um Lillian und lief dann wieder auf einen grünen Hügel zu.

6

Wieder in ihrem Wagen hatte Berit das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Sie atmete heftig und brauchte ein paar Minuten, um ihr aufgewühltes Inneres wieder kontrollieren zu können. Schließlich steckte sie den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor.
Erst als sie sich auf der Autobahn Richtung Stuttgart befand, war Berit wieder dazu imstande, bewusste Gedanken und Aufmerksamkeit in das bis dahin offensichtlich automatisch abgelaufene Fahren zu lassen.

Wie geht es jetzt weiter? Was mache ich denn jetzt überhaupt? Wohin will ich eigentlich?
Berits Finger krampften sich um das Lenkrad, während sie ihre Geschwindigkeit deutlich erhöhte. Als die Landschaft an ihr vorbei rauschte, formulierte ihr Kopf hunderte von stillen Fragen, auf die ihr Herz leider immer nur die gleiche Antwort zu geben vermochte:
Ich muss einfach!
Ihrer Ansicht nach viel zu früh musste sie sich entscheiden, wohin sie sich flüchten wollte und einem Impuls nachgebend folgte sie den Schildern in Richtung Heilbronn. Nach Stuttgart zu fahren war für sie keine Option. Zwar hatte sie noch kein konkretes Ziel vor Augen, aber sie fasste den Beschluss, bei Heilbronn eine erste Entscheidung zu treffen.

Je länger sie der A81 folgte, desto ruhiger wurde es in ihr und ihr Bedürfnis nach hohem Tempo verschwand letztlich vollständig. Schließlich fädelte sie ihren Golf hinter einem LKW ein und setzte ihre Fahrt auf der rechten Spur fort.
Bei langsamer Fahrt begann sie sich etwas zu entspannen und schenkte der bunten Felderlandschaft nach Freiberg größere Aufmerksamkeit.
Berit gefiel es, das Durcheinander von Ocker- und Brauntönen bereits abgeernteter Getreidefelder mit dem lebhaften Grün der Maisfelder zu vergleichen.
Die Maisblätter bewegten sich im Wind und setzten das Grün in Bewegung. Schon bald hatte Berit den Eindruck, dass dieses Grün genauso aufgewühlt war wie sie selbst. Sie begann sich daher mehr auf die verschiedenen Brauntöne zu konzentrieren und deren Ausstrahlung aufzunehmen. Bereits seit frühester Kindheit verband sie mit Braun immer eine gewisse Ruhe und Wärme.
Wärme, nach der sie sich gerade jetzt zu sehnen begann.

5

Berit legte ihre Koffer beinahe vorsichtig in den Kofferraum, als enthielten jene zerbrechlichen Inhalt. Sie hatte sich große Mühe damit gegeben, die richtigen Sachen auszuwählen und jene mit größtmöglicher Sorgfalt auf- und ineinander gestapelt.
Nur zwei Koffer und eine große Reisetasche für eine Reise ins Unbekannte! Ob mir das reicht, dachte sie.
Berit konnte genau fühlen, dass das ihr so vertraute Zaudern erneut dabei war, sie in seine unbarmherzigen Arme zu nehmen. Dieses Mal war sie aber fest dazu entschlossen, sich nicht davon überwältigen zu lassen und dieser Enge zu entfliehen.
Sie straffte ihre Schultern und betrachtete ihr wunderschönes Haus.
Es steckten so viele Erinnerungen darin!
In Berits Gedanken nahm plötzlich eine Unmenge an gutmütigen, schlimmen, traurigen, fröhlichen, bunten und auch schwarzen Erlebnissen Gestalt an.
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Erinnerungen auch physisch daran hindern, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Und damit setzte sie sich entschlossen in den Wagen, wählte die ihr so vertraute Nummer und wartete mit klopfendem Herzen auf die Stimme ihrer Freundin.
„Richmann?“
„Berit hier. Jutta, hast du kurz Zeit für mich?“
„Kommt drauf an, was du von mir brauchst“, lachte ihre Freundin in ihr Ohr.
„Ich komme kurz mal im Café vorbei, ist dir das recht?“
Nachdem Berit die erhoffte Antwort erhalten hatte, legte sie das Telefon auf den Beifahrersitz und drehte den Schlüssel um. Dem ruhigen Brummen des Motors gelang es schon bald, Berits Herzschlag wieder etwas zu normalisieren.
Je weiter sie sich von ihrem Zuhause entfernte, umso leichter wurde es in ihrer Brust.
Zurück schaute sie nicht mehr.

Die Terrasse des Kunstcafés war erstaunlich voll an diesem Vormittag. Der August verabschiedete sich dieses Jahr mit außergewöhnlich heißen Sommertagen und lockte nicht nur Touristen dazu ein, sich in die Sonne zu setzen und sich mit kühlen Getränken und Eisbechern zu erfrischen. Zum üblichen Damenkränzchen, das Jutta Richmann liebevoll als Inventar zu bezeichnen pflegte, hatten sich mehrere unbekannte Gesichter gesellt.
Zielstrebig bahnte sich Berit ihren Weg durch die mit fröhlich plappernden Menschen besetzten Tische hinein ins Café. Wie immer fand sie ihre Freundin hinter dem Tresen vor, die ihren Blick umgehend auffing.
Nach einer kurzen Unterhaltung mit einer ihrer Kellnerinnen deutete Jutta mit einem Kopfnicken zu einem kleinen Tischchen vor dem Tresen.
Berit nahm Platz, um auf sie zu warten. Die kurze Wartezeit nutzte sie dazu, um die sie umgebende, aktuelle Ausstellung an den Wänden zu bewundern. Bereits bei der Vernissage Anfang August hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Farbpracht dieser jungen Nachwuchskünstlerin eine ganz besondere Stimmung ins Café zaubern würde. Jutta war sich damals nicht ganz sicher gewesen, ob man sich angesichts des kräftigen Bunts nicht auf Dauer eher genervt, denn inspiriert fühlen würde. Dabei vermochte jedes einzelne Bild Berits Meinung nach seine ganz eigene Geschichte zu erzählen.
Geschichten, die sie nicht mehr erzählen konnte, wie ihr gerade in diesem Moment klar wurde.
So in Gedanken versunken ließ sie sich von der Leuchtkraft den Farben mitnehmen und verlor sich in ihnen, bis ihre Freundin wie immer mit zwei Tassen Tee vor ihr stand und sie freundlich anlächelte.
„Na, meine Liebe, was verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?“
„Ich hoffe, ich störe dich nicht. Ist ziemlich voll heute. Vielleicht hätte ich besser nicht kommen sollen“, antwortete Berit.
Jutta setzte sich neben sie, lachte herzlich und umarmte sie.
„So ein Unsinn, du weißt doch, die Karin ist die beste Bedienung, die man sich wünschen kann. Die schafft das ganze Lokal alleine und bringt sogar verärgerte Gäste dazu, über eine lange Wartezeit zu schmunzeln. Denk dir also nichts.“
Als Berit hierauf nichts erwiderte, sondern schweigend an ihrem Tee schnupperte, verschwand Juttas fröhliches Lächeln aus ihrem Gesicht.
„Liebes, was ist denn mit dir los?“, fragte sie.
Berit sah ihre Freundin eine Weile an, um nach den richtigen Worten zu suchen. Warum nur fiel es ihr so schwer, Dinge beim Namen zu nennen? Mit einem Pinsel in der Hand konnte sie sich weit besser ausdrücken – jedenfalls war das bis heute Morgen immer so gewesen.
„Jutta, ich verschwinde“, sagte sie endlich.
„Wie, du verschwindest? Spinnst du?“
Am liebsten wäre Berit sofort aufgesprungen und weggelaufen, aber nun hatte sie es endlich ausgesprochen.
Wem, wenn nicht ihrer ältesten Freundin, konnte sie sich anvertrauen?
„Ich verschwinde für eine Weile von hier. Ich muss weg. Ich kann einfach nicht mehr.“
„Was ist denn passiert? Wo willst du denn hin?“, fragte Jutta überrascht.
„Ich weiß noch gar nicht, wo ich überhaupt hin will, aber auf alle Fälle halte ich es hier nicht mehr aus. Ich bin so furchtbar leer.“
„Was sagt denn Andreas dazu? Und die Mädchen?“, wollte Jutta wissen.
„Sie wissen noch nichts. Ich habe ihnen Briefe geschrieben, in denen ich ihnen alles erkläre.“
„Du weißt schon, dass das eine starke Nummer ist, die du da abziehst? Was auch immer dich dazu bringt, sowas überhaupt machen zu wollen, das haben deine Kinder nicht verdient. Die kommen von der Schule nach Hause und ihre Mama ist einfach futsch?“
„Bitte hass mich nicht“, bat Berit leise. „Ich brauche Zeit für mich allein. Andreas und die Kinder kommen zurecht. Die sind ja schon groß. Und außerdem, was bin ich denn für eine Mutter, wenn ich so bin wie ich bin?“
„Wie bist du denn?“, fragte Jutta.
Berit seufzte schwer und ließ sich etwas Zeit für ihre Antwort.
„Ich bin nicht mehr da. Ich habe irgendwie damit aufgehört, ich zu sein.“
Als Jutta in das verzweifelte Gesicht ihrer Freundin blickte, erkannte sie, dass diese Worte eine unfassbare Wahrheit für Berit geworden waren. Da waren noch so viele Fragen, die sie ihr zu gerne stellen wollte, aber sie wusste genau, dass jene keine Worte mehr hatte für das, was ihr gerade so zusetzte. Also nahm sie Berit einfach in den Arm und hielt sie wortlos so lange fest, bis das eingesetzte, leise Weinen wieder aufhörte.
„Ich kümmer´ mich um deine Mädels. Ich bin für sie da, versprochen. Halt mich bitte auf dem Laufenden und sag mir, wann du wieder zurückkommst“, sagte sie.
Berit konnte nicht antworten.
Sie sah sie nur mit großen, traurigen Augen an und nickte.
Dann stand sie auf, beugte sich noch einmal zu einem Küsschen zu ihrer Freundin hinunter und wandte sich zum Gehen.
„Pass auf dich auf und melde dich, ja?“, bat Jutta eindringlich.
„Werde ich“, versprach Berit und verließ das Café.

4

Beinahe vorsichtig hielt sie jedes Stück in den Händen und betrachtete es voller Erinnerungen. Irgendwie schien ihr jedes Kleidungsstück Episoden aus ihrem Leben erzählen zu wollen. Schließlich griff sie zu ihrer bunten Lieblingsweste.
Die Strickjacke hatte ich schon damals, als mich Andreas zur Geburt von Svenja in die Klinik gefahren hatte. Mit ihr hatte mein neues Leben als Mutter begonnen.
„Ich bin eine richtige Rabenmutter“, schimpfte sie sich laut und legte die Jacke schnell in den Koffer. Sie verschloss sich weiteren sentimentalen Gedanken und beendete zügig ihr Vorhaben. Mit einer gewissen Zufriedenheit stand sie vor nun zwei gefüllten Koffern und einer großen Reisetasche. Wohin will ich eigentlich und was brauche ich dort überhaupt?
Die Mädchen. Ich muss sie mitnehmen.
Berit ging in die Zimmer ihrer Töchter, um sich von jeder ein Kleidungsstück zu holen. Eines von Svenjas unvermeidlichen Tüchern und Lillys rosa Jacke, die ihr schon längst zu klein geworden war und die sie nun wirklich nicht mehr tragen sollte. Berit wollte den Geruch ihrer Töchter bei sich haben, egal, wohin es sie trieb. Sie packte Tuch und Jacke in die Reisetasche und zog den Reißverschluss zu.

Dann griff sie nach den beiden Koffern und schleppte sie die Treppen hinunter. Nicht einmal das schwere Gepäck konnte sie mehr aufhalten und so ging sie ein letztes Mal nach oben, um auch ihre Reisetasche zu holen. Sie blickte ein letztes Mal in ihr Schlafzimmer, bevor sie die Tür schloss.
Wieder unten angekommen stellte sie ihr Gepäck ab, um ihre Handtasche mit Papieren, Kredit- und Kontokarten und der albernen Lesebrille ihrer Mutter zu befüllen.
Ich sehe schon aus wie sie damals.
Der Gedanke an ihre Mutter, die zeitlebens über eben diese Brille gezetert hatte, ließ sie schmunzeln. Dann steckte sie das kleine, silber gerahmte Familienporträt in die Tasche und nahm ihren Sommermantel und die Schlüssel von den Haken.
Während sie ihre Sachen in den Kofferraum hob, lauschte Berit in sich hinein.
Vielleicht war da ja doch eine innere Stimme, die sie von ihrem Entschluss abzubringen versuchte?
Doch in ihr war Stille.

3

Obwohl in diesem Raum erst das beginnen konnte, was sie selbst als ihre wunderbare Galerie aus Gedanken und Geschichten bezeichnete. Jedes Bild ihrer Gedankengalerie war reich gefüllt mit Eindrücken, die ihr die Welt der Farben zu entlocken vermochte.
So war ein Grün für Berit nicht nur ein simples Grün, sondern beispielsweise eine Wiese, über die sie als Kind in die Arme ihres Großvaters gelaufen war: das Gefühl der Lebensfreude und der Sicherheit. Und gerade ihr Grün in „Eins“ war weit mehr als das. Es war Ausdruck ihrer Hoffnung, endlich wieder aus dem Grau ihrer Seele herauszufinden.

So in Gedanken versunken bemerkte Berit die ungewohnte Spätsommerhitze erst dann, als ihr Kopf zu schmerzen anfing. War es eigentlich jemals Ende August derart heiß gewesen?

Seufzend erhob sie sich von der gemütlichen Gartenbank und ging zurück zum Haus. In der Küche stand wie immer ein Krug mit Tee und Früchten und gerade als sie sich ein Glas einschenken wollte, läutete das Telefon. Nur einen kurzen Augenblick lang verspürte sie den Impuls, das Gespräch anzunehmen, aber dann wandte sie sich wieder dem Tee zu. Das Läuten dauerte an bis Berit ihr Glas ausgetrunken und wieder abgestellt hatte. Sie schüttelte den Kopf und ging hoch ins gemeinsame Arbeitszimmer.

Andreas‘ Schreibtisch war wie gewöhnlich ordentlich und übersichtlich, während ihr eigener beinahe unter der Last von aufgeklappten Büchern und allerlei Papierkram zusammen zu brechen schien. Wie immer war sie erstaunt, wie deutlich man ihre gegensätzliche Persönlichkeit in diesem einen Zimmer sehen konnte. Berit setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm Zettel und Kugelschreiber und fing an zu schreiben. Sie schrieb drei Briefe. Einen an ihren Mann und zwei für ihre Töchter, welche sie anschließend auf das jeweilige Bett legte.

Danach ging sie ins Schlafzimmer, holte die Koffer aus dem Wandschrank und begann zu packen.

 

2

Ohne zu wissen, warum, ging sie durch das Wohnzimmer hindurch, öffnete die Terrassentür und trat ins Freie hinaus. Ein viel zu heißer Augustmorgen schlug ihr entgegen und Berit blinzelte in den farbigen Garten, dem der nahende Herbst bereits anzusehen war. Die leuchtenden Staudenbeete, Andreas‘ ganzer Stolz, strahlten im bereits herbstlich weich werdenden Sonnenlicht. Aber sie hatte keine Augen für die Farbpracht ihres Gartens, sie durchquerte ihn einfach, um zu der kleinen Bank beim Zaun zu kommen. Von dort aus konnte sie so herrlich in die Weite und zu den Wäldern blicken. Sie liebte es, dort Farben zu sammeln und jene mit Ideen zu füllen. Jedes ihrer Bilder sollte eine Geschichte erzählen, als hätte sie sie mit Worten gemalt. Aber heute sprachen weder der Wald, noch die Felder, noch die Bäume mit ihr. Das Grün blieb grün. Wortloses Grün. Wortlose Farben.

Während ihr Blick immer unachtsamer in der Ferne verweilte, zog sich Berit in ihre Erinnerungen zurück.

„Ich weiß nicht, ob ich das als gut bezeichnen möchte“, sagte sie und zog das Tuch von der Leinwand. Es kam ihr als eine Ewigkeit vor, bis Andreas endlich auf ihr mehrmaliges „Und?“ reagierte.

„Berit, das ist wundervoll! Ich wusste gar nicht, dass du eine Künstlerin bist!“
Andreas nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Über ihre Schultern hinweg blickte er weiterhin zu ihrem ersten Ölgemälde, zum Werk Eins, wie sie es nannte. „Ich möchte bitte unbedingt Zwei und Drei und weitere.“

Sie konnte sich noch ganz genau an das überwältigende Gefühl des Stolzes erinnern, das sie beide damals in dieser Umarmung durchflutet hatte. Schwer zu sagen, ob sie nur stolz auf ihr prächtiges Bild oder eben auf ihren Mut gewesen war, sich endlich aus ihrem traurigen Dunkel zu befreien. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich getraut, etwas für sich selbst zu tun. Einfach um seiner selbst willen. Immer hatte sie vernünftig gehandelt.

Sie war Kindergärtnerin geworden, weil ihre Mutter ihr immer Talent im Umgang mit Kindern zugesprochen hatte. Sie hatte Andreas geheiratet, weil er ihr eine sichere Zukunft bieten konnte. Sie hatte Kinder bekommen, weil diese eine harmonische Ehe krönen sollten.

Doch dann kamen die Depression und ein Schwarz, das sie nicht mehr aus seiner Umklammerung lassen wollte.

Als könnte die Stille des Gartens ihr eine Antwort geben, lauschte Berit den Naturgeräuschen aufmerksam, als sie sich selbst die Frage stellte, ob es wohl eher Schuldbewusstsein oder doch ein Rest dessen gewesen war, das sie beide viele Jahre verbunden hatte, dass er ihr diesen Raum und dessen Möglichkeiten geschenkt hatte.

1

Nichts war ihr unangenehmer als zugeben zu müssen, dass sie nicht weiter wusste. Was hatte sie nicht schon alles versucht, um ihren Geist zu lösen, um sich wieder in der Weite ihrer Phantasie verlieren zu können. Was war es nur, das sich in ihren Gedanken festgesetzt hatte und sie so gefangen hielt?
Normalerweise fiel es ihr ziemlich leicht, ihr Ich in all seinen Facetten auf der Leinwand entstehen zu lassen. Ein Bild ohne echte Persönlichkeit konnte und wollte sie nicht malen, davon gab es ihrer Meinung nach schon zu viele.
Sie senkte die Augen und verlor sich im Farbengewirr der Palette in ihrer Linken. Mit einem leisen „Schauderhaft“ legte sie Pinsel und Palette auf das kleine Tischchen vor der Staffelei und streckte ihren Rücken durch. Eine ganze Weile stand sie einfach nur da und blickte auf die Leinwand. Nein, das Bild hatte ihr nichts mehr zu geben. Sie hatte nichts mehr zu geben.
Berit zog ihren Malerkittel aus und erinnerte sich daran, wie sie ihn zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte.
Andreas hatte ihn ihr einst freudestrahlend überreicht, als er sie in ihr neues Reich geführt hatte. Er hatte sich wirklich große Mühe gegeben, den muffigen Kellerraum in ein freundliches Zimmer zu verwandeln. Sie sollte die Möglichkeit für Rückzug haben, sie sollte sich nur auf sich selbst konzentrieren können. Auf ein Ich, das ihr nach der Geburt ihrer zweiten Tochter verloren geglaubt schien.
„Aber Schatz, das ist doch ein Apothekermantel!“
„Na und, es spielt doch keine Rolle, welches Kleidungsstück dich vor deinen Farbspritzern schützt, nicht wahr? Und außerdem habe ich einen neuen vom Chef bekommen.“
Dann hatte Andreas seine Frau behutsam weiter in den neuen Raum geschoben, ihr eine Kusshand zugeworfen und die Tür hinter sich geschlossen, um sie alleine zu lassen.
Genau wie heute hatte sie einfach nur dagestanden und sich mit dem Mantel in den Händen ihren Gedanken überlassen.
So viele Farben, so viele Erinnerungen. Eigentlich sollte ich ihn auf einen Rahmen spannen, überlegte sie.
Ihre Hände streichelten den fleckigen Stoff behutsam wie einen alten Freund und legten ihn dann langsam auf dem abgewetzten Ohrensessel ab. Sie fragte sich, wie oft sie wohl schon Tee trinkend darin gesessen hatte, um sich an einem gerade entstehenden Bild zu erfreuen.
Berit warf einen letzten Blick auf ihr Bild, das sich so vehement weigerte, ihr Bild werden zu wollen, und ging aus dem Atelier. Schon längst war das kleine, dunkle Kellerzimmer einem lichtdurchfluteten Studio gewichen. Der Architekt hatte sich vor acht Jahren sehr darum bemüht, dem neuen Familienheim nicht nur zu hübschen Wohnbereichen zu verhelfen, sondern auch ihrer Kunst angemessenen Raum zu verleihen.
Als sie das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür vernommen hatte, war es, als machte sich Erleichterung in ihr breit. Die Ausstellung war für Dezember vereinbart, aber das würde wohl nichts werden. Innerhalb von drei Monaten würde sie niemals zu der Aussagekraft zurück finden können, die vor langer Zeit auf sie aufmerksam werden ließ. Es war Zeit, Luise anzurufen und jene davon abzuhalten, die Werbeplakate in den Druck zu schicken. Die große Berit war offenbar doch nicht so groß, wie man sie immer im Schwarzwälder Boten darstellte. Die angebliche Bilderseele Rottweils war ausgebrannt und leer.
An trostlosen Tagen wie diesen pflegte Berit üblicherweise, ihren Rucksack zu packen und sich am Neckar freizuwandern. Aber heute erschien ihr sogar das zwecklos. Die Farben, die Gerüche und Geräusche ihrer Kindheit, ja ihres ganzen Lebens, erschienen ihr plötzlich so fremd wie das Bild im nun geschlossenen Atelier. Das kam ihr ein bisschen merkwürdig vor, denn die Tür war die ganzen Jahre überwiegend offen gewesen. Sie liebte die Offenheit beim Malen, um sich von der Welt mitreißen zu lassen. Eine geschlossene Tür hätte ihr den Eindruck verliehen, eingesperrt zu sein.
Und daher wunderte sie sich über das unerwartete Gefühl der Befreiung, das sie so im Flur stehend plötzlich empfand.